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Der goldene Kelch 

Er schlenderte gemächlich über den Gehweg der kleinen, ruhigen Vorortsiedlung. Während er seinen großen ledernen Aktenkoffer von der linken in die rechte Hand nahm, ließ er seine Blicke scheinbar ohne große Aufmerksamkeit durch die gepflegten Vorgärten und über die eindrucksvollen Hausfassaden gleiten.
Hier war er richtig. Noble, gediegene Einfamilienhäuser, nicht zu protzig und alle mindestens schon zehn bis fünfzehn Jahre alt. Dementsprechend waren die Gärten üppig und dicht, viele Tannen, Hecken und Zypressen schirmten die Grundstücke voneinander ab.
Trotz der spätsommerlichen Schwüle trug er an diesem Nachmittag wieder einen tadellos sitzenden Anzug mit weißem Hemd und korrekt gebundener Krawatte. Schon auf dreihundert Meter sah er aus wie ein typischer Versicherungsvertreter. Aber schließlich war er ja auch einer - zumindest ein bisschen. Bereits vor vielen Jahren hatte er ein Gewerbe als selbstständiger Versicherungsmakler angemeldet und zahlte als solcher auch regelmäßig seine Steuern. Was sollte er auch sonst in Zeile 72 der Einkommenssteuererklärung eintragen? Etwa die Wahrheit?
Einen kurzen Augenblick verharrte er vor einer großen Mauer mit einer blank polierten Messingtafel, aus der hervorging, dass der Hauseigentümer Unternehmensberater war. Durch das schmiedeeiserne Tor sah er einen dunkelblauen Mercedes und ein BMW-Cabrio. Also war vermutlich jemand zuhause. Eigentlich schade, dachte er, während er weiterging, das Haus sah wirklich äußerst viel versprechend aus.
Vom nächsten Grundstück hörte er Hundegebell und Kindergejohle, ein Haus weiter ließ jemand gerade eine Jalousie herunter und daneben mähte ein etwa vierzehnjähriger Junge den Rasen. Doch er hatte Geduld. Noch in diesem Jahr wurde er fünfzig und verfügte über eine Menge Berufserfahrung und Routine. Irgendwo in diesem Nobelviertel gab es mit Sicherheit auch Villen, in denen niemand zuhause war. Der Ehemann in seiner Firma, die liebe Gattin im Fitnessstudio und der Nachwuchs im Freibad oder beim Surfen draußen am Baggersee.
Eine halbe Stunde später fand er ein paar Straßen weiter, am Ende einer Sackgasse, das geradezu ideale Objekt. Das anderthalbgeschossige Haus lag auf einem sehr großen Grundstück, relativ weit von der Straße und den Nachbarvillen entfernt. Nirgendwo auf dem exakt gestutzten Rasen lag Kinderspielzeug herum, vor dem Haus parkte kein Auto, kein Hundegebell war zu hören.
Über dem ganzen Haus lag eine einladende Stille.
Während er langsam über das Natursteinpflaster auf die Haustür zuging, nahm er schmunzelnd zwei Infrarot-Bewegungsmelder wahr, die vermutlich mit dem Außenlicht gekoppelt waren. Diese weißen Plastikkästchen hatten sich seit Jahren in den Gärten und an den Hauswänden vermehrt wie Pilze im August. Die Dinger funktionierten nur nach Einbruch der Dunkelheit und sollten nächtliche Einbrecher verscheuchen. Nächtliche Einbrecher! So ein naiver Schwachsinn. Die Leute stellen sich den gemeinen Villeneinbrecher offenbar immer noch als unrasierten, dunkel gekleideten Typen vor, der mit Taschenlampe und riesiger Brechstange im Mondschein umherschleicht. Vielleicht noch mit einer schwarzen Augenmaske und breiter Nummerntafel unter dem Kinn, wie die Jungs von der Panzerknacker AG?
Es gab nun wirklich keinen vernünftigen Grund, ausgerechnet in der Dunkelheit seiner Arbeit nachzugehen. In praktisch jedem Haus war dann ja schließlich, außer vielleicht in den Ferien, jemand anwesend. Außerdem waren nachts fast überall die Jalousien heruntergelassen, es gab keinen Verkehrslärm, der irgendwelche Geräusche überdecken konnte und man brauchte tatsächlich eine Taschenlampe, um in den Wohnungen etwas Mitnehmenswertes finden zu können. Jeder Nachbar, der etwas später heimkehrte oder seinen Hund noch mal vor die Tür ließ, würde sofort etwas hören oder sehen und die Bullen anrufen. Und die wären des nachts auch noch in wenigen Minuten da, während sie tagsüber alle Hände voll zu tun hätten, den großstädtischen Verkehrskollaps zu betreuen.
Villeneinbruch in der Nacht? Das war ein verstaubtes Fernsehkrimi-Klischee.
Er stand nun vor der großen, massiven Haustür aus alter Mooreiche. Rechts befand sich ein Klingelknopf aus Messing, jedoch keinerlei Namensschild. Das gefiel ihm. Offenbar kein neureicher Aufsteiger, der unbedingt zeigen musste, dass ihm dieses Haus gehörte. Er mochte diese Newcomer nicht, die auch stets darauf achteten, dass die mittleren Buchstaben am Kennzeichen ihres neuen Mercedes die eigenen Initialen waren. In deren Wohnungen fand man meist nur Schrott, ein paar Dali-Drucke vielleicht, etwas protzigen Modeschmuck und eine goldene Herren-Rolex.
Dieses Haus roch nach altem Geld. Er drückte den Klingelknopf und lauschte angespannt. Natürlich kein elektronisches Gedudel, sondern ein richtiger Westminster-Gong. Das hatte er auch so erwartet, das passte zum Haus. Er hörte keinerlei sonstigen Geräusche aus dem Inneren des Gebäudes. Nach einer halben Minute schellte er nochmals.
Nach so vielen Jahren musste er sich innerlich nicht mehr auf den Fall einstellen, dass plötzlich doch jemand zur Haustür kam. Er würde sich wie immer freundlich vorstellen: ”Schönen guten Tag, gnädige Frau, ich komme von der Global-Secura-Lebensversicherung und möchte Ihnen einmal ...” Weiter kam er meistens nicht und in der Regel wurde er dann freundlich aber bestimmt abgewimmelt und konnte anschließend in Ruhe die Suche nach einem neuen Objekt aufnehmen.
Es geschah aber auch manchmal, dass er tatsächlich ins Haus gebeten wurde und ab und zu kam es sogar zum Abschluss von Versicherungsverträgen. Er konnte sich seinen Erfolg manchmal selbst kaum erklären. Vielleicht lag es daran, dass er, im Gegensatz zu echten Versicherungsvertretern, überhaupt nicht aufdringlich war. Im Gegenteil - er selbst war es ja, der möglichst schnell das Gespräch beenden und das Haus verlassen wollte. Die Kunden spürten, dass er ihnen nicht ganz hartnäckig eine Lebensversicherung aufschwatzen wollte und glaubten sich daher gut beraten.
Wie immer schellte er auch hier ein drittes Mal und achtete anschließend auf mögliche Geräusche aus dem Hausinneren. Nichts. Er schaute sich kurz um, stellte fest, dass niemand auf der Straße und auf dem Bürgersteig zu sehen war und machte sich auf den Weg zur Rückseite des Hauses. Der gepflegte Garten bestand an den Grundstücksrändern aus hohen, dichtstehenden Büschen und Laub- und Nadelbäumen. Die Terrasse war von keiner Seite her einsehbar. Wirklich ideal, zum Beispiel, um unbeobachtet nackt in der Sonne zu liegen. Aber eben auch, um einzubrechen ...

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