Valentins-Tag
Seit Antritt der Fahrt hatte er noch kein Wort geredet. Mürrisch setzte er den rechten Blinker, um die A 8 in Richtung Regensburg zu verlassen. Er hatte schlechte Laune, und das aus mehreren
Gründen. Zum einen hatte Theo Lanzinger eigentlich die ganze Woche dienstfrei, um einige seiner siebenhundert Überstunden abzubauen. Und da rufen die ihn am späten Freitagnachmittag aus dem Präsidium an und sagen
was von „personellen Engpässen“ und „wir brauchen deine Erfahrung“. So ein Schmarren! In zwei Jahren wurde er ohnehin pensioniert. Spätestens dann würde man beim K 1 schließlich immer ohne ihn auskommen müssen.
Zum anderen hatte er gerade in seiner Küche das Abendessen vorbereitet. Der Vorteig für Dampfnudeln aus lauwarmer Milch, Zucker Mehl und Hefe sollte vor der Weiterverarbeitung 20 Minuten ziehen. 20 Minuten! Wer
weiß, wann er jetzt zurückkehren würde. Vielleicht in 10 Stunden. Den Teig konnte er dann wegwerfen. Und dann noch diese schwüle Hitze. Es war viel zu warm für die letzte Woche im September, und den Tag, an dem
man bei der Kripo Augsburg endlich Dienstwagen mit Klimaanlage anschafft, würde er wohl nicht mehr erleben. Zudem sollte ihn die Fahrt ausgerechnet auf so einen einsamen Bauernhof in Untergriesbach führen; er sah
schon die Schwärme von Fliegen und Stechmücken vor sich, die über Kuhfladen und Misthaufen kreisten. Schließlich auch noch diese junge Kollegin auf dem Beifahrersitz. Sie war vor einem halben Jahr zum K 1
versetzt worden. Ende zwanzig, dunkelhaarig, sportlich, recht gutaussehend – und unerhört nervtötend. Sie fand ständig irgend etwas „echt geil“ oder „total krass“ und redete gern von Dingen wie „Profiling“ oder
„evaluierter Perseveranz-Theorie“. Fürchterlich. Nach einer halben Stunde Fahrzeit kamen sie an, ohne sich auch nur einmal verfahren zu haben. Seltsam, Kollegin Burger hatte ihn ohne jeden Fehler bis zu diesem
nun wirklich völlig abgelegenen Bauernhof gelotst. Wahrscheinlich Zufall. „Eintreffen am Tatort neunzehn Uhr fünfzehn. Notier‘ dir das, Madel“, sagte er, während er den BMW parkte.
Larissa Burger hasste es, wenn ältere Menschen sie „Mädchen“ oder „Madel“ nannten. Erst recht, wenn es solche bierbäuchigen Typen mit buschigen Augenbrauen und jede Menge Haaren in den Ohren sagten, wie
ihr Kollege Lanzinger, der sich gerade ächzend aus dem Dienstwagen quälte. Sie entgegnete aber diesmal nichts, sondern stieg aus und zückte ihre Schreibkladde. Neben der Uhrzeit machte sie sich noch einige Notizen
über das, was sie bei einem ersten Überblick auf dem Bauernhof feststellen konnte. Dazu machte sie noch schnell einige Aufnahmen mit der Digitalkamera. Der einsame Hof bestand aus dem in dieser Gegend typischen
älteren Haupthaus, einem langgezogenen Stall und einer großen Scheune. Hinter dem Hauptgebäude erkannte sie noch einen großen Neubau, der ganz offensichtlich erst vor kurzem fertiggestellt worden war. Er war im
gleichen Stil wie die hier üblichen Bauernhäuser errichtet worden, besaß aber ungewöhnlich viele Fenster und einige große Balkone. Beide Häuser waren in einem hellen, warmen Gelbton gestrichen, von dem sich die
dunklen hölzernen Fensterläden deutlich abhoben. Vor dem Haupthaus standen insgesamt fünf Autos, wobei sie sich nur die Kennzeichen der beiden Privat-Pkw notierte. Zwei Fahrzeuge waren grün-weiße Streifenwagen,
vermutlich von der Polizeiinspektion Aichach, der letzte war der Notarztwagen vom Städtischen Krankenhaus. Im Haus wimmelte es von Menschen. Es dauerte eine ganze Weile, bis Larissa Burger und Theo Lanzinger sich
einen Überblick verschafft hatten. Larissa erfasste akribisch die Personalien aller Angetroffenen. In der großen Wohnküche saß die Ehefrau des Getöteten, Frau Margareta Jakob, mit ihren drei Kindern im Alter von
acht bis vierzehn Jahren. Der Notarzt, der eigentlich wegen des aufgefundenen Erschossenen gerufen worden war, kümmerte sich um die von Weinkrämpfen geschüttelte Vierzigjährige. Er hatte ihr ein starkes
Beruhigungsmittel gespritzt und sie auf die Eckbank gesetzt, umringt von ihren ebenfalls weinenden Kindern. In einer Ecke der Küche stand eine uniformierte Kollegin, die etwas verlegen und hilflos dreinblickte.
Im Wohnzimmer saßen auf dem großen Sofa zwei Männer mit Anzug und Krawatte, die nach Larissas erster Einschätzung ganz sicher nicht auf diesen Hof gehörten. Sie entpuppten sich dann auch tatsächlich als der
Gebietsleiter der Agrar-Sekur-Versicherung und ein Schadens-Gutachter. Neben ihnen saß auf der Couch ein weiterer Streifenbeamter, der sich vom Versicherungsfachmann offenbar gerade die umfangreichen Möglichkeiten
einer Berufsunfähigkeitsversicherung für ledige Nebenerwerbslandwirte erläutern ließ. Auf dem großen Flur des Hauses befand sich der dritte Schutzpolizist, der sich von den ebenfalls dort stehenden beiden
Sanitätern des Rettungswagens eine Zigarette geschnorrt hatte und mit ihnen qualmend den morgigen Spieltag der Fußball-Bundesliga besprach. Schließlich begaben sich Larissa Burger und Theo Lanzinger in die erste
Etage, zum eigentlichen Tatort. Larissas Puls beschleunigte sich vor Aufregung deutlich, während sie langsam hinter Theo Lanzinger die knarrenden Holzstufen hinaufstieg. Oben angekommen, trafen sie den vierten
Streifenbeamten an, ein junger Kollege, der sichtlich erleichtert war, nicht mehr allein mit der Leiche zu sein. Das Zimmer war etwa vier mal fünf Meter groß, die Leiche des fünfundvierzigjährigen Georg Jakob lag
vor dem weit geöffneten Fenster auf dem hölzernen Fußboden. In der Brust des auf dem Rücken liegenden Mannes war deutlich eine Schusswunde zu erkennen. Das karierte blaue Baumwollhemd war aufgerissen, auf der Haut
klebten mehrere Elektroden, die wohl von den vergeblichen Erste-Hilfe-Maßnahmen des Sanitäter-Teams stammten. Die große Blutlache, in der die Leiche lag, rührte offenbar hauptsächlich von dem deutlich größeren
Ausschussloch auf dem Rücken her, wo die Kugel den Körper verlassen hatte. Larissa Burger trat ans offene Fenster und blickte hinaus. Direkt unterhalb lehnte eine hölzerne Leiter an der Hauswand. Unweit des
Hauses stand auf dieser Seite des Gebäudes ein großer, alter Baum, der voller reifer Äpfel hing. Sie drehte sich um und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Ein Bücherregal, ein Schreibtisch aus dunkler Eiche und ein daneben stehender moderner Computer-Arbeitsplatz, in der Ecke eine große
Standuhr. Die mittlere Schreibtischschublade stand auf, aber richtig durchwühlt wirkte das Zimmer nicht. Was war hier geschehen? Nach einem Raubmord sah das nicht aus.
Sie machte auch hier einige Übersichtsfotos mit der digitalen Kamera ...
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