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Der Prokurist

Werner Grotejohann stand langsam vom Schreibtisch auf und ging zum großen Panorama-Fenster seines Büros. Er schwenkte langsam den Cognac in seinem Glas, nahm einen Schluck und schaute über die Flachdächer des Werksgeländes. Aufgrund der einsetzenden Dämmerung war die Beleuchtung der großen dunkelroten Schriftzeichen auf Halle 1 schon angegangen: Grotejohann Fleischverarbeitung. Werner Grotejohann ließ seinen Blick über den Horizont gleiten; in der Ferne konnte er noch schwach die Kirchturmspitze der Gütersloher Martin-Luther-Kirche erkennen. Leichter Nieselregen setzte ein. Das Wetter passte zu seiner derzeitigen Stimmung.
Zurück am Schreibtisch versuchte er, sich auf die Unterlagen vor ihm zu konzentrieren. Morgen früh würden dreihundert Schweine angeliefert werden, gegen Mittag sechzig Rinder. Normaler Start am Montag in eine arbeitsreiche Woche.
Nach einigen Minuten wurde ihm klar, dass er nur auf das Blatt Papier starrte, ohne sich wirklich mit dem Inhalt zu befassen.
So konnte es nicht weitergehen. Er leerte sein Glas und zog die obere rechte Schublade auf. Da lag der Umschlag. Einhunderttausend Euro. Hatte der Kerl überhaupt eine Ahnung, wie hart er für so viel Geld arbeiten musste? Werner Grotejohann erhob sich und ging unruhig im Büro auf und ab.
Er hätte sich nie auf diese Erpressung einlassen dürfen. Schon die erste Zahlung, zehntausend Euro, war ein großer Fehler gewesen. Jedes Mal hatte dieser Widerling natürlich mehr haben wollen. Das hätte ihm doch klar sein müssen. Wer einmal zahlt, zahlt immer. Wie hatte er nur so naiv sein können?
Er hatte, seit er vor fast dreißig Jahren die Großschlachterei seines Vaters übernommen hatte, wirklich hart gearbeitet, selten Urlaub gemacht und manch schwierige Situation des stetig wachsenden Unternehmens gemeistert. Und jetzt sollte er mit diesem feigen Typen nicht fertig werden? Nein - das musste ein Ende haben. Grotejohann würde ihm heute noch einmal den Umschlag geben, dann musste aber Schluss sein. Irgendwie.
Vielleicht sollte er heute gar nicht zahlen, sondern den Kerl vom Gelände jagen, sobald er gleich hier erscheinen würde. Und morgen würde sich Werner Grotejohann bei der Staatsanwaltschaft offenbaren. Oder erst einmal zum Anwalt gehen, um mit ihm das weitere Vorgehen zu besprechen.
Nie hätte er sich vorstellen können, dass Dieter Schniedermann zu so etwas fähig gewesen wäre. Was hätte er machen sollen, als er seinen ehemaligen Prokuristen bei seinen Betrügereien erwischt hatte? Als der sich regelmäßig kleinere Summen auf ein Konto in der Schweiz transferierte? Natürlich hatte Grotejohann ihn fristlos entlassen, und das Arbeitsgericht hatte ihm ja auch Recht gegeben.
Zu seiner Überraschung war Schniedermann dann nach einigen Wochen in seinem Büro aufgetaucht und hatte etwas von einer ihm zustehenden Abfindung gefaselt. Einer fälligen Bonuszahlung. So eine Unverschämtheit! Erst als Grotejohann ihn wütend zur Tür verwies, hatte Schniedermann eine CD aus der Jackentasche geholt.
„Ich habe da bei meiner Entlassung vorsichtshalber mal ein paar Sicherheitskopien gefertigt“, hatte er frech grinsend gesagt. „Von den Lohnlisten der illegal beschäftigten rumänischen Ausbeiner zum Beispiel. Und Belege über die zwei Scheinfirmen, die Sie gegründet haben, um das Lohndumping zu kaschieren. Und über den großen Subventionsbetrug, mit falsch ausgezeichneten Fleischlieferungen nach Russland…“
Werner Grotejohann hatte ihm eine Woche später, sonntags im Büro, im Austausch mit einer Daten-CD die verlangten zehntausend Euro übergeben und ihn aufgefordert, sich nie wieder blicken zu lassen.
Das hatte natürlich nicht geklappt.
Und jetzt zahlte Grotejohann in unregelmäßigen Abständen an diesen unverschämten Menschen, und jedes Mal wollte er mehr. In einer halben Stunde würde er wieder am Werkstor schellen...

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