Home Kurzkrimis Leseprobe 1 Leseprobe 2 Leseprobe 3 Leseprobe 4


Am Ende des Weges

... Ritchie ließ Stefan nicht aus den Augen, als dieser die Schaufel langsam aufhob und den kleinen Waldweg hinaufging. Er folgte ihm im Abstand von drei Metern, nah genug, um ihn mit der 9 mm unter Kontrolle zu haben, weit genug entfernt, um nicht in Reichweite der Schaufel zu sein. Stefan würde keine Skrupel haben, ihm mit dem Ding den Schädel zu spalten.
Nach zwanzig Meter kamen sie auf eine kleine Lichtung, die von einer alten, mächtigen Eiche beherrscht wurde. Ihre Lichtung – ihre alte Eiche.
Hier in diesem Waldgebiet nördlich von Euskirchen hatten sie in ihrer Jugend zusammen das erste Bier getrunken, die erste Schachtel Marlboro gequalmt, den ersten Joint gekifft. Hier hatten sie mit fünfzehn auf dem Rücken im Gras gelegen, in den Sternenhimmel geschaut und Zukunftspläne geschmiedet. Damals, Ende der Achtziger. In den umliegenden Wäldern waren sie im nächsten Sommer mit einer gestohlenen 500er Yamaha herumgefahren und hatten von Karrieren als Motocross-Fahrer gesponnen. Später nahmen sie sich fest vor, zusammen zur See zu fahren, um in der Karibik eine Surfschule zu eröffnen. Natürlich wollten sie auch zusammen den Mount Everest besteigen. Und in Kalifornien in einem der großen Filmstudios arbeiten ...
„Los, graben!“ sagte Ritchie jetzt. „Fang an. Ein schönes großes Loch, etwa ein mal zwei Meter.“
„Jetzt sag mal ehrlich. Tickst du nicht richtig? Was soll der Scheiß?“
„Ich habe dir schon mal gesagt – ich bin so klar im Kopf wie seit Jahren nicht. Hier ist doch eine erstklassige Stelle für ein Grab, oder?“
„Hast du einen Hollywoodstreifen zu viel gesehen? Ein Grab?“
„Fang an. Die Zeiten, dass ich für dich maloche, sind endgültig vorbei.“ Er zielte noch einmal demonstrativ mitten in Stefans Gesicht. „Ritchie, der dusselige Trottel, der für dich jeden Dreck wegmacht? Vergiss es! Grab!
Stefan drehte sich um und begann langsam mit dem Fuß das Blatt der Schaufel in die Grasnarbe zu stechen. Ritchie behielt ihn weiter angespannt im Auge. Jeden Moment musste man bei ihm mit einem Angriff rechnen. Stefan war einen Kopf größer als er und mit Muskeln aus dem Fitnessstudio und der Pillendose übersät. Wenn der auf ihn zu rannte, würde er sofort schießen müssen.
Aber Stefan grub eine Zeit lang, ohne sich umzudrehen, ruhig und verbissen weiter. Ritchie setzte sich auf einen Baumstumpf und schaute sich verstohlen aus den Augenwinkeln um. Es war ein herrlicher Sommertag, er hoffte, dass keine Spaziergänger hier auftauchen würden. Aber die Touristen, die im Raum Euskirchen Erholung im Wald suchten, gingen oft nur in die bekannte Mitbachanlage. Auch die vielen markierten Wege für Wanderer oder Mountainbiker in den großen umliegenden Waldgebieten führten nicht in die Nähe dieser kleinen Lichtung. Hierher hatten sich schon früher nur selten andere Menschen verirrt.
In der Ferne sah man in den Feldern ein kleines Stück der A 1, die Geräusche der Fahrzeuge drangen aber nicht bis hierher vor. Viele Lkw waren zu erkennen, aber auch eine schier endlose Kolonne von Pkw, darunter viele mit Wohnwagenanhänger. Es war Ferienbeginn in Nordrhein-Westfalen.
Über diese Autobahn waren sie damals auch mit dem gestohlenen Wagen abgehauen. Zuerst in das nur dreißig Kilometer entfernte Köln, dann ein paar Monate später nach Hamburg.
Auf keinen Fall hatten sie in dieser Provinz bleiben wollen. Das hatten sie sich schon früh geschworen. Ritchie kam aus Kleinbüllesheim, Stefan aus Großbüllesheim; sie hatten sich in der Schule kennengelernt, als Stefan als Sitzenbleiber in Ritchies Klasse kam. Von da an waren sie unzertrennlich gewesen. Ritchie hatte bewundernd aufgeschaut zu dem erfahrenen Stefan, der stets wusste, wo es lang ging, der sich nichts von Erwachsenen sagen ließ. Stefan hatte seitdem Ritchies ganzes Leben bestimmt.
Nein - er hatte sein ganzes Leben versaut.
Ritchie merkte, dass Tränen in seinen Augen hochstiegen. Er wischte mit dem linken Unterarm über das Gesicht und bemühte sich, seine Verzweiflung zu verbergen. Er zielte weiter mit der der im Sonnenlicht glänzenden Beretta auf den grabenden Stefan... 

Zurück